Wie steht es um unsere Werte, den Umgang miteinander? Der Moralphilosoph Rainer Erlinger - bekannt geworden durch "Die Gewissensfrage" - versucht mit einem modernen Leitfaden für unsere Gesellschaft Antworten zu geben. (BR 2019) Autor: Florian Kummert
Credits
Autor/in dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Ruth Geiersberger, Stefan Wilkening, Hans Jürgen Stockerl
Technik: Adele Kurdziel
Redaktion: Bernhard Kastner
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ATMO a01
SPRECHER
Sehr geehrter Herr Dr. Erlinger,
ich ärgere mich, dass ich bei den sogenannten „Rispentomaten“ auch den Strunk und damit eigentlich Abfall zum Tomatenpreis kaufen soll. Daher suche ich im Supermarkt immer nach Tomaten, die schon vom Strunk abgefallen sind. Wenn die Menge nicht reicht, löse ich selbst welche vom Strunk. So wiege und bezahle ich nur Tomaten - und nicht das grüne Beiwerk. Ist das richtig?
MUSIK m01
SPRECHERIN
Tomaten und ein Hauch von Drumherum. Eigentlich eine kleine Frage, in der ein verschwindend geringer Betrag verhandelt wird. Nur einen winzigen Cent-Betrag spart der Fragesteller ein, indem er das Grünzeug nicht mit wiegt. Und doch ist genau das für Rainer Erlinger eine perfekte, weil vielschichtige Gewissensfrage. Soll man, darf man das Grünzeug bei den Rispentomaten abzupfen?
OTON Rainer Erlinger 1
„Am Ende kann man sagen: ‚der hat das Recht dazu, das ist durchaus korrekt!‘ Und dann hab ich gemerkt: Aber trotzdem stimmt was nicht. Da find ich eben: Der mag zwar recht haben, aber möchte man in einer Gesellschaft leben, die so aufgebaut ist, dass die Menschen bei allem was sie tun, denken, ob sie das letzte 0,5 Cent noch für sich rausholen oder nicht? Und da hab ich erkannt zu sagen: ‚Nein!‘ Es ist wichtiger zu sagen, was ist das für ein Mensch, wie möchte man, dass die Gesellschaft aufgebaut ist und nicht ob diese einzelne kleine Geschichte jetzt richtig oder falsch ist.“
SPRECHER
Eine moralphilosophische Antwort, mit einem kleinen ‚Ja‘ und einem großen ‚Nein‘. Rainer Erlingers Antwort bezieht sich auf einen jahrtausendealten Text und die dazugehörige Haltung: die Tugendethik des Aristoteles, verfasst im 4. Jahrhundert vor Christus. Nicht die einzelne Handlung steht hier im Vordergrund, das einzelne Richtig oder Falsch, sondern das gesamte Handeln als tugendhafter Mensch. Aristoteles sieht in der Tugend das richtige Verhalten in der Mitte zwischen zwei schlechten Extremen. Und wie im Beispiel der Tomaten bis in den kleinsten Cent-Bereich hinein auf seinen Vorteil zu achten, ist extrem. Soll das eine erstrebenswerte Haltung sein? Möchte man in einer Welt leben, in der alle Menschen so handeln? Rainer Erlinger will das nicht - und zieht dabei gerne den aristotelischen Gradmesser der Freundschaft heran:
OTON Rainer Erlinger 2
Wenn man sich überlegen würde, möchtest du mit jemandem, der sich so verhält, befreundet sein? Und das ist plötzlich eine Frage, mit der man merkt, es geht mehr um den Menschen, um Haltung, der kann auch mal einen Fehler machen, der kann auch im Einzelfall falsch liegen, aber es geht um diese Haltung, die in der Antike eine große Rolle gespielt hat. Möchte ich so ein Mensch sein, möchte ich eine Gesellschaft, die auf solchen Menschen aufgebaut ist?
MUSIK m02
SPRECHERIN
Sehr geehrter Dr. Erlinger, ich bin Studentin und knapp bei Kasse. Nun habe ich eine Brieftasche gefunden, mit viel Bargeld. Habe aber alles zurückgeschickt. Doch meine Freunde meinten, ich hätte das Geld behalten sollen. Macht doch jeder! Ich sei ein „naiver Gutmensch“. Bin ich das?
OTON Rainer Erlinger 3
Gutmensch ist natürlich ein ganz problematischer und schwieriger Begriff, weil man sieht, wie ein zweifelsfrei richtiger Begriff, ein guter Mensch, das ist ja was Richtiges und gut, wieder aus der antiken Ethik, da wollte man eigentlich ein guter Mensch sein. Das ist die Idee. Durch einfache Umbenennung in ‚Gutmensch‘ wird plötzlich was Negatives draus, und man sieht zum einen die Macht der Sprache, wie man einen Begriff kapern kann, ihn sogar umdrehen, ins Gegenteil, und wie man diese Idee, ich finde eine Geldbörse und schicke die zurück, natürlich lasse ich das Geld drinnen, ich würde sagen, das ist nicht ein guter Mensch, sondern das ist eigentlich selbstverständlich.
SPRECHER
So selbstverständlich waren die Antworten nicht immer bei Rainer Erlinger. Fast 17 Jahre lang - von 2002 bis Ende 2018 - hat er für das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ seine Kolumne „Die Gewissensfrage“ verfasst. Mehr als 850 Texte kamen so zusammen, in denen er auf Fragen der Alltagsmoral und des Gewissens einging. Fragen, die keine eindeutige, klare Antwort hatten, sondern zu einem Abwägen einluden, zu einem intellektuellen Spiel der Möglichkeiten, oft verbunden mit einem passenden Zitat aus anderen Werken, meist Klassikern der Moralphilosophie. Aristoteles, Kant, aber auch Freud oder sogar ein Asterix-Band tauchten in den Texten auf. Die Kolumne hat Rainer Erlinger schließlich abgegeben, um sich verstärkt längeren Texten und seinen Büchern widmen zu können. Abhandlungen über die Höflichkeit, die Frage „Warum die Wahrheit sagen?“ und über „Moral - wie man richtig gut lebt“. Ein Gesamtbild, das sich aus der Arbeit an den über 15.000 eingesendeten Einzelfragen ergeben hat:
OTON Rainer Erlinger 4
Ich hab mal das Bild gehabt: Das ist wie eine Schüssel unterm Schreibtisch, wo von jeder Frage was reingetropft ist, diese Essenz, dass ich die zusammenfassend darstellen wollte.
SPRECHERIN
Sozusagen die Tugendethik des Dr. Dr. Rainer Erlinger.
1965 wird er in Deggendorf geboren, besucht dort die Schule und fängt früh an zu schreiben, gibt die Schülerzeitung heraus und geht zum Studieren nach München. Er ist fasziniert von Jura und Medizin, beides lernintensive Studiengänge. Rainer Erlinger entscheidet sich … gar nicht, sondern studiert beides. Schließt erst Medizin ab, dann Jura. Und promoviert in beiden Fächern. Ein niederbayerisches Wunderkind also?
OTON Rainer Erlinger 5
Nein, Wunderkind bin ich nicht. Ich bin nur tatsächlich jemand, wenn man’s böse formulieren würde, könnte man sagen, etwas zwanghaft, und wenn man es nett formuliert, bin ich einfach jemand, der, wenn er was angefangen hat, es auch gerne zu Ende bringt. Und zwar nicht nur aus diesem „Ich muss es unbedingt zu Ende bringen“, sondern ich hab das Ganze studiert, weil es mich interessiert und dann will ich auch den akademischen Abschluss zu Ende bringen, es sind ja beides Fächer, die man nie in dem Sinn zu Ende bringt, dass ich jetzt alles wüsste, aber dass ich zumindest einen Schlusspunkt setzen kann, bei dem was ich erfahren kann, und es hätte mich immer unglücklich gemacht, wenn ich nur einen Teilüberblick habe.
SPRECHER
Erlinger vermischt in seiner Arbeit beide Welten, Medizin und Jura, er wird Anwalt mit Schwerpunkt Medizinrecht, das sich generell mit ethischen Fragen beschäftigt, dem Beginn und dem Ende des Lebens oder der Autonomie des Menschen. Was darf man selbst bestimmen? Welche Verpflichtungen hat man gegenüber der Gesellschaft oder welche Verpflichtungen hat die Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen? Neben seiner Anwaltstätigkeit rückt das Schreiben immer mehr in den Vordergrund. Und dabei entdeckt Erlinger die Welt der Philosophie, insbesondere der Moralphilosophie.
Die trifft, wenn sie allgemeinverständlich erklärt und auf ihre Essenz destilliert wird, auf ein immer breiteres Interesse bei den Lesern. Für manche wird Erlinger zum ‚Moral-Papst‘, für andere zum ‚Moralapostel‘...
OTON Rainer Erlinger 6
‚Moralapostel‘ ist ein unschöner Begriff, wobei ich feststelle, dass viele Leute das oft gar nicht so böse meinen, sondern das eher so scherzhaft machen, aber natürlich stört mich das, weil der Moralapostel ist negativ konnotiert, ist einer der mit erhobenen Zeigefinger durch die Welt läuft und anderen Leuten das Leben schwer macht und auch dieses Übergenaue und Übermoralische, das möchte ich natürlich nicht sein. Aber ein moralischer Mensch bin ich schon auch gerne, weil ich das für richtig halte.
SPRECHERIN
Schon in den 1960er Jahren erkannte der Soziologe Niklas Luhmann, dass unsere Welt immer komplexer wird - eine Veränderung, auf die der Mensch reagieren muss. Die Komplexität hat in den vergangenen Jahrzehnten noch weiter zugenommen und mit ihr wächst eine Unsicherheit, gegen die Erlinger anschreiben will:
OTON Rainer Erlinger 7
Wir haben die Unsicherheit im Großen, also wo geht die politische Gesellschaft hin? Wo geht die Politik insgesamt, wo geht die Welt hin? Ich glaube auch, dass es noch eine zweite gibt, die schon viel länger da ist: dass die Gesellschaft Regeln verloren hat. Also ich sag das mal ganz neutral: vor 50 oder vor 100 Jahren war im Leben alles geregelt. Die meisten haben das Leben ihrer Eltern fortgeführt, haben den Beruf ergriffen, haben vielleicht den Hof übernommen oder das Geschäft übernommen, oder sind in dieselbe Lehre gegangen. Und wie man sich verhält, war vorgegeben von den Eltern, von der Gesellschaft, von der Kirche. Das ist alles weggefallen, größtenteils. Die meisten machen ein ganz anderes Leben, leben woanders, haben einen Beruf… oft ist es so, die Eltern können nicht mal mehr genau beschreiben, was die Kinder eigentlich als Beruf machen. Und plötzlich ist alles offen und da ist ein Verlust an Regelung, an Regeln. Man kann nicht komplett ohne Normen, ohne ein Regelwerk wie man zusammenlebt ein Leben oder eine Gesellschaft bilden. Deswegen müssen dann neue Regeln gesucht werden, und das sind die Moral, die Ethik, das Reflektieren. Was ist richtig, was ist falsch? Und eben das Fragen und das Neu-Suchen.
ATMO a02 und MUSIK m02
SPRECHERIN
Bis zu 100 Suchende pro Woche schickten ihre Gewissensfragen an Rainer Erlinger. Ein beliebtes Themengebiet: Kinder.
SPRECHER
Dürfen wir meinem Bekannten und seiner Frau sagen, dass uns deren dreieinhalbjähriger Sohn auf die Nerven geht, wenn wir uns sehen? Oder ist das unter Freunden tabu und wir müssen alles ertragen, was Kinder in diesem Alter eben so tun?
SPRECHERIN
Antwort: Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Wesen, was uns nicht nur Kant klargemacht hat. Entsprechend sollten wir uns verhalten. Sie, indem Sie nicht sagen, dass Ihnen das Kind auf die Nerven geht und damit ihren Freund kränken; stattdessen besser, dass Sie einfach nicht so viel mit Kindern anfangen können. Und ihr Freund, indem er Ihnen zukünftig nicht die volle Dosis Kind zumutet.
ATMO a04
SPRECHER
Weiteres Themengebiet: die Nachwehen von Beziehungen.
SPRECHER
Vor vier Monaten trennte sich meine Freundin nach fünf Jahren von mir. Nun sind wir uns zum ersten Mal wieder auf einer Party begegnet und haben uns nur knapp begrüßt. Als sie später sah, wie ich eine andere Frau küsste, verließ sie sofort wütend die Feier.
Ich bekam ein schlechtes Gewissen und wollte mich bei ihr entschuldigen.
Muss ich das?
MUSIK m02
SPRECHERIN
Antwort: Sie sind ein freier Mann und dürfen küssen, wen Sie wollen. Eine Entschuldigung ist also nicht notwendig. Was aber nicht bedeutet, dass es vollkommen richtig war, vor den Augen der Ex eine andere Frau zu küssen. Man könnte es als eine Frage des Stils ansehen, oder des Rücksichtsgebots. So wirkt das wie ein in Richtung der Ex gebrülltes „ICH KANN TUN, WAS ICH WILL!!!“ mit drei Ausrufezeichen. Eine vielleicht berechtigte, aber keine schöne Art der Kommunikation.
SPRECHER
Die Frage, die Rainer Erlinger wohl am häufigsten gehört hat, lautet:
Sagen Sie mal, sind die Gewissensfragen wirklich alle echt, das kann doch gar nicht sein?!
OTON Rainer Erlinger 8
(Lacht) Die kommt so häufig … ich kann’s gar nicht mehr zählen, die kommt tatsächlich auch … das ist die Partyfrage, Ach du machst die Gewissensfrage, was mich schon lange interessiert … in dem Moment sag ich, ja sie sind alle echt …! Ich warte die Frage gar nicht mehr ab, die kommt immer wieder, und dann: ja die Fragen sind ja so komisch, sag ich, ja, ich find’s schon fast eine Beleidigung zu sagen, die sind so schräg, dass du sie dir ausdenkst, nein, also ich käme auf so viele Fragen gar nicht, und ich finde das Schöne an diesen Fragen ist, dass sie oft ´ne Kante haben, wo man merkt, das ist jetzt nicht der glatte Lehrbuchfall, sondern da ist irgendwas, wo es nochmal schwierig wird und wo etwas drin ist, was sich der glatten Lösung widersetzt.
SPRECHER
Ich bin seit kurzem arbeitslos. Meine 82jährige Mutter würde sich darüber sehr grämen, daher möchte ich sie in ihren letzten Lebensjahren von dieser schlechten Nachricht verschonen und ihr meine Arbeitslosigkeit verheimlichen. Kann dies als Notlüge durchgehen oder muss ich ehrlich sein?
SPRECHERIN
Erlinger empfiehlt auf die Notlüge zu verzichten, wenn das Verhältnis zur Mutter eng und vertrauensvoll bleiben soll. Der Umgang mit Lüge und Wahrheit: ein Themengebiet, das im Lauf der Jahre immer mehr Zuschriften hatte. Einer der zentralen Punkte unserer Alltagsmoral und von den christlichen 10 Geboten dasjenige, das am häufigsten gebrochen wird:
SPRECHER
Du sollst nicht lügen!
MUSIK m03
SPRECHERIN
Kirchenvater Augustinus hielt es in seiner Abhandlung „De mendacio - Über die Lüge“ Ende des 4. Jahrhunderts dabei sehr streng. Egal wie leicht oder schwer die Lüge ausfiel, sie war verboten. Ohne ‚Wenn‘ und ‚Aber‘. Denn für Augustinus war jede Wahrheit ein Abbild der ewigen Wahrheit Gottes. Wer lügt, entfernt sich Augustinus zufolge von Gott und nähert sich dem Teufel an.
Genauso streng hielt es Immanuel Kant mit seinem Lügenverbot, das Erlinger wie auch bei Augustinus über weite Strecken bewundert. Allerdings nicht uneingeschränkt. Denn sogar beim Extrembeispiel „Darf man einen Mörder belügen, der fragt, wo sich sein Opfer versteckt hält?“ sagt Kant: nein, man darf nie lügen …!
OTON Rainer Erlinger 9
… Aus sehr logischen und klaren und wunderschönen Gründen, aber an der Stelle finde ich opfert er den Menschen dem Prinzip und das halt ich nicht für richtig.
Ich bin wirklich ein Gegner von Lüge und ein Anhänger der Wahrhaftigkeit und des Ehrlichseins. Aber ich bin kein Anhänger eines zwanghaften ‚immer die Wahrheit-Sagens‘ und auch ‚immer Alles-Sagens‘. Ich muss, wenn mir ein Geschenk nicht gefällt, das dem Schenker nicht sagen. Wenn man irgendwo eingeladen ist und hat keine Lust hinzugehen, außer bei einem sehr guten Freund, der wirklich alles versteht, dem sagt man ‚du ich hab heut keine Lust, ich bleib lieber zu Hause!‘. Aber anderen Leuten sagt man nicht, ‚ich hab keine Lust zu Ihnen zu kommen, da ist es immer langweilig und das Essen schmeckt nicht!‘, sondern man sagt, ‚ich kann leider nicht kommen‘. Punkt. Und das ist auch richtig so. Es ist nicht nötig, das Gegenüber in dieser Situation auch noch zu kränken. Deswegen gibt es Situationen, in denen das Lügen sinnvoll ist, gesellschaftlich sinnvoll, um einfach ein Miteinander zu ermöglichen.
Nur muss man sehr scharf und genau trennen, davon, ob auf dieser Lüge etwas aufbaut. In dem Moment, in dem etwas aufbaut, sei es in einer Beziehung, in einem Zusammenarbeiten, in der Politik, in der Gesellschaft, dann beginnt man damit zu manipulieren oder beginnt ein falsches Fundament zu schaffen, auf dem dann nichts Richtiges mehr funktioniert, und da muss man die klare Trennlinie setzen.
MUSIK m05
SPRECHER
Beim größten aller Dramatiker, William Shakespeare, findet Rainer Erlinger die unterschiedlichen Facetten des Phänomens Lüge. In Othello etwa. Aus Rache strickt dort der Schurke Jago ein Netz aus Lügen und Intrigen mit einem Ziel: die Lügen sollen bewusst dem belogenen Othello schaden.
SPRECHERIN
Anders dagegen die Lügen, die König Lear von seinen Töchtern aufgetischt werden. Sie erzählen und versprechen ihm, dass sie nur ihn lieben, mehr als alle anderen auf der Welt, mehr als die eigenen Ehemänner. Das ist gelogen, denn nachdem ihnen Lear sein Königreich übergeben hat, kümmern sie sich nicht mehr um ihn.
Die Töchter wollen dem Vater mit den Lügen nicht bewusst schaden, aber sie nehmen es in Kauf, um an das Königreich zu kommen. Und Lear selbst glaubt dem süßen Gift der Lüge, obwohl er mit etwas rationellerem Denken merken müsste, was hier gespielt wird.
SPRECHER
Doch nicht nur Lear, wir alle lassen uns immer wieder und oft auch bereitwillig belügen. Beispiel: Wahlversprechen in der Politik. Mögen die Versprechen - gerade bei populistischen Parteien und Kandidaten - noch so unglaubwürdig sein, sie werden gerne geglaubt. Der Wunsch ist Vater des Gedankens und Türöffner für die Wirkung der Lüge.
Und hier wird es gefährlich, argumentiert Rainer Erlinger in seinem Buch „Warum die Wahrheit sagen?“ - nicht nur bei Shakespeare, sondern auch für unsere Gesellschaft und für die Demokratie:
OTON Rainer Erlinger 10
Es geht darum, wie wahrhaftig, wie ehrlich man miteinander umgeht und vor allem wie wichtig es ist, sich auf die Wahrheit und zwar ein Alltagsverständnis von Wahrheit, nämlich das, wie es ist, zu einigen, als Grundlage für eine Gesellschaft. Weil, wenn jemand ständig alles leugnet, und sagt, es ist gar nicht so, dann kann man sich überhaupt nicht mehr auseinandersetzen, kann man nicht mehr übereinkommen, kann nicht vorwärts gehen, sondern man braucht die Wahrheit, um sich zu einigen darauf, dass man die Wahrheit benutzt als Basis sowohl für das individuelle Leben als auch für das gesellschaftliche Leben. Für die Politik und die Demokratie. Wie soll eine Demokratie funktionieren, wenn die Wahlbewerber und Parteien, die Kandidaten … irgendetwas behaupten, und stimmt alles nicht?! Ja, was ist es dann, da fällt die Demokratie, die ja aus dem Alten Griechenland kommt, diese öffentliche Diskussion, dass man in der Gesellschaft spricht, das fällt alles zusammen, wenn man die Wahrheit als Fundament wegzieht.
SPRECHERIN
Prominentes Forschungsobjekt zu dem Thema: der 45. Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump. Was Trump nicht passt, wird schlecht geredet.
SPRECHER als VOICEOVER Donald Trump (erst engl., dann dt.)
„All of this with the global warming. A lot of is it’s a hoax. I mean it’s a money-making industry, OK? A hoax.”
„Der Klimawandel? Erderwärmung. Alles Unsinn, eine Lüge, reine Abzockerei.“
We had a massive field of people. Honestly, it looked like a million, a million and a half people, whatever it was. But it went all the way to the Washington Monument.”
„Bei meiner Amtseinführung waren eineinhalb Millionen Menschen. Ein Massenauflauf, die standen bis hinter zum Washington Monument!“
OTON Rainer Erlinger 11
„Man ist fassungslos. Und nachdem dieses Thema Lüge und Wahrheit mich ja interessiert, habe ich die Nachrichten darüber dann verfolgt. Und bin so ein bisschen fassungslos ist der richtige Ausdruck, weil ich gar nicht mehr wusste: wie soll man das greifen?
SPRECHERIN
Anders als der bösartige Lügner Jago oder die Töchter von König Lear, denen die Lüge zum Ziel verhilft, ordnet Erlinger das Redegeflecht von Trump in eine dritte Kategorie ein, die zwischen Lüge und Wahrheit steht und umso gefährlicher ist: den sogenannten „Bullshitter“.
OTON Rainer Erlinger 12
Sein Ghostwriter dieses Buches „The Art of the Deal“, der hat gesagt, Trump hätte eine eigenartige und herausstechende Fähigkeit: das zu glauben, was er selbst sagt. Sozusagen indem er es sagt, und es schlüssig klingt, es selbst zu glauben. Dann wäre er eben kein Lügner, sondern dieser Bullshitter, der das sagt, was in dem Moment für ihn am günstigsten und am sinnvollsten ist und ihn am besten weiterbringt.
Und da entsteht etwas sehr Interessantes. Wenn man rein intuitiv fragt, was ist schlimmer, der Bullshitter, der einfach so dahinredet oder jemand der lügt, der aktiv voll mit Täuschungsabsicht lügt, dann würde man intuitiv sofort sagen, natürlich der mit Absicht - ist schon dieses Wort - lügt, der ist schlechter, hat eine stärkere Verwerflichkeit, eine bösere Absicht und so weiter. Aber wenn man es gesamtgesellschaftlich betrachtet, ist der Bullshitter eigentlich viel verheerender. Weil der Lügner erkennt an: es gibt eine Wahrheit, ich nutze es nur aus, sie an manchen Stellen durch die Lüge zu verkehren, das Gegenteil zu sagen, aber der Bullshitter der leugnet eigentlich, dass es überhaupt einen Unterschied zwischen richtig und falsch, zwischen wahr und unwahr gibt, und das ist im Endeffekt für die Gesellschaft und für das Zusammenleben, die Kommunikation und die Demokratie noch viel verheerender, mit dem kann man eigentlich nicht diskutieren, den kann man nicht widerlegen, mit dem kann man nicht mehr sich auf irgendwelche Fakten einigen, weil alles nur noch ein Fluss ist, man ist in irgendeiner Soße von Behauptungen und Nicht-Behauptungen, wo es keinen Grund mehr gibt, auf dem man stehen könnte.
MUSIK m02
SPRECHERIN
Lüge. Wahrheit. Moral. Wahrhaftigkeit. Tugend. Gedankenfutter für eine bessere Gesellschaft. Wie ein moralischer Kompass wirken die Schriften von Rainer Erlinger. Und ist er selbst einmal unsicher, dann wandert er hinter seinem Schreibtisch die große Bücherwand entlang, den Finger an den Buchrücken. Immer wieder greift er zu seinem großen Vorbild Aristoteles, und liest eine der für ihn essentiellen Stellen der Tugendethik: die Aufforderung an sich und seiner Seele zu arbeiten, und zwar ein Leben lang.
OTON Rainer Erlinger 13
„Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein einziger Tag, so macht auch ein einziger Tag oder eine kurze Zeit niemanden glücklich und selig.“ Das ist diese Idee, dass man die Haltung erwirbt, dass es drauf ankommt, dass man selbst an sich arbeitet und das die ganze Zeit macht, und dann wie ein guter tugendhafter Mensch handelt. Ich glaub die Gesellschaft, und jetzt nicht nur auf sich selbst bezogen, das wird besser, wenn man sich daran hält.
ENDE
En liten tjänst av I'm With Friends. Finns även på engelska.