Bis ins 20. Jahrhundert hinein streiften Schmetterlingsjäger und Sammler mit ihren Netzen durch Wald und Wiesen, um die flatternden Schönheiten zu erhaschen. Auch einige bekannte Schriftsteller frönten dem lustvollen Zeitvertreib. Autorin: Justina Schreiber (BR 2020)
Credits
Autor/in dieser Folge: Justina Schreiber
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: : Katja Bürkle
Technik: Helge Schwarz
Redaktion: Susanne Poelchau
Im Interview:
Anita Albus, Illustratorin und Schriftstellerin
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
ZITATOR 1: (Hesse)
Ich weiß noch, wie sehr ich als junger Mensch mir wünschte, einmal einen gewissen Schmetterling zu sehen, der nach Angabe der Bücher im Monat Mai in Andalusien fliegen soll.
SPRECHERIN:
Wie angewurzelt mit offenem Mund steht der Schmetterlingssammler auf einer Lichtung. Vor ihm heben gerade zwei Prachtexemplare vom sonnenbeschienenen Boden ab.
ZITATOR 1: (Hesse)
Und als ich da und dort bei Freunden und in Museen manche von den großen Prachtfaltern aus den Tropen zu sehen bekam, habe ich jedes Mal etwas von dem unsäglichen Entzücken der Kindheit wieder in mir zucken fühlen, etwas von dem atemberaubenden Entzücken, das ich z. B. als Knabe beim ersten Anblick des Falters Apollo empfunden hatte.
SPRECHERIN:
Vom Tropenhelm bis zu den Stiefeln - der schrullige Typ mit der spiegelnden Nickelbrille wirkt wie erstarrt, als sei er von seinen Gefühlen überwältigt. Er hat gefunden, was er suchte. Aber er kann „es“ nicht fassen, sein Glück… zu seinem Pech.
Carl Spitzwegs Gemälde aus dem Jahr 1840 ironisiert einen Moment, den wohl so mancher passionierte Schmetterlingssammler kannte. Der Schriftsteller Hermann Hesse auf jeden Fall - wenn er, den Kescher gezückt, zwischen Himmel und Hölle schwebte, dem Pathos wie der Paralyse so nah.
ZITATOR 1: (Hesse)
Zugleich mit diesem Entzücken, das auch Wehmut enthält, tat ich beim Anblick solcher Wunderfalter oft jenen Schritt in das Goethesche Erstaunen hinein und erlebte einen Augenblick der Bezauberung, der Andacht und Frömmigkeit.
MUSIK 2
"Remember me" M0075027101 - Länge: 1'27
SPRECHERIN:
Das Wunder der Natur „ergreift“ den Menschen, während er es erhaschen und „be-greifen“ möchte. Was für ein Exempel. Was für eine Aufgabe für die Denker und Dichter unter den Schmetterlingsliebhabern. Und noch dazu an der frischen Luft! Vladimir Nabokov gilt als der berühmteste falterjagende Literat.
ZITATOR 2: (Nabokov)
Über Moorbeersträucher voller matt und verträumt blauer Beeren, über die braunen Augen stehender Gewässer, über Moos und Moor, über die Blütenstiele des duftenden Sumpfweichkrauts …
SPRECHERIN:
Spaziergänger staunten über sie. Bauern verhöhnten und Hunde verfolgten sie. Wie besessen schienen die mehr oder weniger professionellen Schmetterlingskundler vergangener Zeiten mit ihren Netzen durch Wald und Wiesen zu springen. Der Welt entrückt…
ZITATOR 2: (Nabokov)
… Strich in niedrigem raschen Flug ein dunkler kleiner Perlmutterfalter. Eine hübsche Moorbunteule, ein Nachtfalter wie ein Edelstein, summte auf und ab an ihrer sumpfigen Futterpflanze.
SPRECHERIN:
… Und zugleich inmitten eines elementaren Geschehens.
ZITATOR 2: (Nabokov)
Ich setzte rosagerandeten Gelblingen nach und graumarmorierten Satyrfaltern.
SPRECHERIN:
Fotos aus den 1960er Jahren zeigen Vladimir Nabokov, den Autor des berühmten „Lolita“-Romans, auf der Jagd in den Schweizer Bergen – mit zusammengekniffenen Augen seinen schillernden „Dämon“ im Blick.
Musik 3
"Remember me" M0075027101 - Länge: 0'42
ZITATOR 2: (Nabokov)
Ohne der Mücken zu achten, die mir die Unterarme bedeckten…,
SPRECHERIN:
Es war ein Tanz ungleicher Paare. Hier der ältere Herr in Turnhosen oder der halbwüchsige Junge mit Strohhut und dort das bunte Flatterwesen, das sie narrte… Von wegen!
ZITATOR 2: (Nabokov)
… Bückte ich mich mit einem kehligen Freudenlaut, um das Leben eines silberbesetzten Lepidopterons, das in den Falten meines Netzes zuckte, mit meinen Fingern auszulöschen. Immer noch nicht befriedigt, drängte ich weiter.
SPRECHERIN:
Was suchten sie bloß?
O-TON 01: (Anita Albus)
„Ich mein, das war einfach auch gang und gäbe im 19. Jahrhundert, dass man sowohl seine Botanisiertrommel hatte als auch eben auch unter Umständen Schmetterlinge gejagt hat.“
SPRECHERIN:
So die Illustratorin und Autorin Anita Albus. Im 20. Jahrhundert jedoch überwogen bereits „Unverständnis, Gereiztheit und Spott“, wenn ein Schmetterlingssammler seiner „stillen Suche“ nachging, wie Vladimir Nabokov es oft genug zu spüren bekam. Wie überhaupt der Sinn für naturkundliche Zusammenhänge verloren ging. Wissenschaftlicher Fortschritt bedeutete Spezialistentum.
O-TON 02: (Anita Albus)
„Im 19. Jahrhundert war es noch selbstverständlich, dass alle Zoologen und Botaniker auch zeichnen konnten. Das ist schon lange nicht mehr der Fall.“
SPRECHERIN:
Anita Albus hat ein Buch mit dem schönen Titel „Sonnenfalter und Mondmotten“ publiziert. Neben gelehrten Essays steuerte sie eigene Aquarelle bei. Dass sie einen Enzian-Ameisen-Bläuling, ein Grünwidderchen oder einen Isabellaspinner detailgetreu in ihrer Imago, in der erwachsenen Erscheinungsform abbilden konnte, verdankte sie den Schmetterlingsjägern, die ihre Fänge gut präpariert zoologischen Sammlungen überlassen hatten. Anita Albus wollte die Formen und Farben der Falter „getreu“ nach der Natur zeichnen. Inmitten der Natur ging das nicht.
O-TON 03: (Anita Albus)
„Es gibt natürlich Leute, die nach dem fliegenden Schmetterling…, das ist aber eine vollkommen andere Vorgehensweise. Wenn man auf das Detail fixiert ist, bleibt einem nichts Anderes übrig als nach Präparaten zu arbeiten.“
SPRECHERIN:
Ein Notbehelf. Denn präparierte Schmetterlinge sind „unnatürlich“ aufgespannt, aber eben keine unsicheren flüchtigen Kandidaten mehr.
O-TON 04: (Anita Albus)
„Ich kann mich einem Schmetterling in der Natur nicht so annähern wie ich es müsste. Da fliegt er weg!“
SPRECHERIN:
Abgesehen davon, dass viele Arten mittlerweile ausgestorben sind - und zwar nicht wegen allzu emsiger Schmetterlingssammler!
Die Finessen des Insektenfangs lernten meist die Söhne von ihren Vätern und Großvätern. Vielleicht inspiriert von Alexander von Humboldt, dem bedeutenden Forschungsreisenden, hatte im 19. Jahrhundert so mancher brave Bürgersmann die anschauende Naturkunde zu seinem Zeitvertreib erwählt. Und der Nachwuchs fand eines Tages auf dem Gabentisch auch eine Ausrüstung vor.
ZITATOR 1: (Jünger)
Netz, Nadeln, Fangflasche, ein Kasten. Damit beginnen alle Entomologen, und die meisten in früher Jugend – subtile Jäger, die den Kerfen, den Entoma…
SPRECHERIN:
… den Insekten…
ZITATOR 1: (Jünger)
… nachstellen. Dazu ein Buch mit vielen Bildern…
SPRECHERIN:
Im Fall des Schriftstellers Ernst Jüngers war es allerdings „Der Käferfreund, eine praktische Anleitung zum Sammeln und Bestimmen von Käfern“. Womit, wie Jünger in seinem Essayband „Subtile Jagden“ schreibt, „eine erste Weiche“ gestellt war. In Richtung Krabbeltiere. Während andere Kinder, wie Walter Benjamin, der Sohn eines Berliner Kunst- und Antiquitätenhändlers, oder der Missionars-Spross Hermann Hesse offenkundig luftigere Jagdgründe nahegelegt bekamen.
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